Ungleichzeitigkeiten und Divergenzen in der Entwicklung Ostmitteleuropas seit 1989. Jahrestagung des Collegium Carolinum

Ungleichzeitigkeiten und Divergenzen in der Entwicklung Ostmitteleuropas seit 1989. Jahrestagung des Collegium Carolinum

Organisatoren
Collegium Carolinum
Ort
hybrid (Fischbachau)
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.11.2021 - 14.11.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Christiane Brenner, Collegium Carolinum

1989 brachte keine „Stunde Null“ in Ostmitteleuropa, aber große Hoffnungen für einen Transformationsprozess, dessen Ziele klar zu sein schienen: Demokratie, Marktwirtschaft, ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit und die Hinwendung nach Europa lauteten ihre wichtigsten. Polen, Ungarn und die damalige Tschechoslowakei wollten sie im Verbund verwirklichen. Drei Jahrzehnte nach diesem Aufbruch erscheint die Situation jedoch unsicherer denn je. Die Einigkeit der Visegrád-Gruppe ist längst zerbrochen. Polen und Ungarn fordern die Europäische Union durch den Abbau von Rechtsstaatlichkeit offen heraus. Auch in Tschechien und der Slowakei, die in internationalen Demokratierankings besser abschneiden, haben Populisten Zulauf. Dass „der Staat“ in ganz Ostmitteleuropa an einem Vertrauensdefizit leidet, hat das Pandemiegeschehen der vergangenen eineinhalb Jahre deutlich bewiesen.

Eine der zentralen Fragen der von MARTIN SCHULZE WESSEL und DARINA VOLF (beide München) konzipierten Jahrestagung des Collegium Carolinum steckt bereits im Titel der Veranstaltung: Handelt es sich bei den Unterschieden, die sich in der Entwicklung der ostmitteleuropäischen Länder seit 1989 beobachten lassen, um Asymmetrien oder um Divergenzen? Anders ausgedrückt: Bewegen sich Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei lediglich mit der ihnen jeweils eigenen Geschwindigkeit, vielleicht auch auf verschiedenen Wegen – oder schon nicht mehr in die gleiche Richtung? Wo sind die Gründe für das Auseinanderdriften der ostmitteleuropäischen Staaten zu finden, die doch mit einer ähnlichen Diktaturerfahrung in die 1990er-Jahre gingen?

Die Konferenz nahm die gut 30 Jahre seit dem Systemumbruch in Ostmitteleuropa aus historischer Perspektive in den Blick. Es ging um die Voraussetzungen des Transformationsprozesses, die Ideale und Konzepte, die diesen leiteten und die Institutionen, die er hervorbrachte. Europa als ideeller Bezugspunkt und politischer Rahmen spielte ebenso eine Rolle in den Beiträgen und Diskussionen wie der Faktor Zeit. Und schließlich wurde die Perspektive der westlichen Beobachter:innen und Akteur:innen reflektiert: Nahmen diese die „postsozialistischen Staaten“ als diverse und selbstständige Subjekte der Transformation wahr? Und lässt sich die kulturelle Nähe der Ostmitteleuropäer zueinander möglicherweise als Fiktion dekonstruieren, als romantisches Bild, das die dortigen Dissidenten in den 1980er-Jahren zum politischen Programm verwandelt hatten und das 1989 gut zum „Entwicklungsplan“ der Westeuropäer für die Region passte?

Die Ähnlichkeiten, die bei allen Unterschieden zwischen den ostmitteleuropäischen Ländern bestehen, charakterisierte ERIKA HARRIS (Liverpool) im ersten Panel „Historical Legacies“ als Folge einer tiefer zurückreichenden historischen Erfahrung mit staatlicher Desintegration und der Politisierbarkeit von Ethnizität. Um der wachsenden Distanz zwischen Ost und West innerhalb Europas entgegenzuwirken, müsse der Westen diese Prägungen und die aus ihnen resultierenden Empfindsamkeiten verstehen, statt „Postkommunismus“ zum Dauerzustand zu erklären und nationalistischen Populismus zum genuin osteuropäischen Phänomen. Mit Kontinuitäten befassten sich auch die Beiträge von ADÉLA GJURIČOVÁ (Prag) und MAREN HACHMEISTER (Dresden), allerdings mit einem Fokus auf die Zeit seit den 1980er-Jahren. Gjuričová machte unter dem einprägsamen Titel „Not an Empty Playground“ die oft verborgenen Beziehungen sichtbar, die die tschechische Transformationspolitik mit der Normalisierungszeit verbanden – etwa, dass die neuen Parteien nicht auf der Grundlage von politischen Überzeugungen oder Ideologien entstanden, sondern aus alten Freundes- und Kollegenkreisen hervorgingen. Die zum Teil eher vagen Politikvorstellungen ehemals dissidentischer Kreise sollten dann entscheidend für die Gestaltung der politischen Institutionen werden. Hachmeister argumentierte gegen das gängige Bild eines abrupten Abbaus von Sozialstaatlichkeit mit der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Verhältnisse. Wie sie an regionalen Beispielen aus der DDR, aus Polen und aus der Tschechoslowakei zeigte, begann die (Rück-)Verlagerung von Care-Arbeit in den privaten Bereich, konkret die Sorge um ältere Menschen, bereits vor 1989.

Das zweite Panel „Politial Institutions and the Rule of Law“ machte mit den Institutionen des Rechtsstaats genau an dem Punkt weiter, an dem es schon in der ersten Sektion lebhafte Diskussionen gegeben hatte: dem Denken der neuen politischen Akteure. Wie stellten sich führende Politiker der frühen Nachwende-Zeit, zuvorderst die Präsidenten, Demokratie vor? Welche Rolle wollten sie sich selbst und den Parlamenten in den neuen Verfassungen zuschreiben, was verstanden sie unter Rechtsstaatlichkeit? Eine systematische Untersuchung dieses Feldes führt ein Projekt an der Universität Leipzig durch, das DIETMAR MÜLLER (Leipzig) vorstellte. Die Mitarbeiter:innen des Forschungsteams planen, polnische, ungarische, tschechische, slowakische und rumänische Diskurse über die politischen Systeme auszuwerten, die nach 1989 geschaffen wurden. Dahinter steht auch das Anliegen, die aktuellen Konflikte über die nationale Deutung zentraler politischer Begriffe, ihre historische Dimension und die politischen Forderungen an die EU, die aus ihnen abgeleitet werden, besser zu verstehen. JOACHIM VON PUTTKAMER (Jena) konzentrierte sich in seiner dichten Analyse der Auseinandersetzungen über Rechtsstaatlichkeit im Prozess der „Verhandelten Revolution“ in Polen auf die Zeitspanne von 1989 bis 1990. Er konnte zeigen, wie wenig konkret die Vorstellungen der beteiligten Akteure von den Begriffen waren, mit denen sie operierten – Demokratie, Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz – und die ihnen doch als selbstverständliche Ziele erschienen. Viele dieser Termini seien erst diskutiert worden, nachdem sie ihren Weg in die Verfassung gefunden hätten. Wird in Polen seit einigen Jahren eine Deutung von Rechtsstaatlichkeit praktiziert, die mit EU-Recht nicht zu vereinbaren ist, scheint die Entwicklung in der Slowakei auf positive Weise gegenläufig zu sein. Die These von DARINA MALOVÁ (Bratislava), es sei gerade die Erfahrung des gefährlichen Spiels mit dem Populismus während der Mečiar-Jahre, die seit 1998 dazu beitrage solche Strömungen im Zaum zu halten, löste kontroverse Debatten aus. Ihre Beobachtung, dass die Slowakei zwar historisch und kulturell viel mehr mit Ungarn gemeinsam hat als mit Tschechien, ihre politische Entwicklung der tschechischen aber ähnlicher ist als der ungarischen, lenkte den Blick indessen auf die herausragende Bedeutung politischer Akteur:innen. In der Slowakei gab und gibt es erfolgreiche Populisten – auch rechtsextremen Zuschnitts –, aber keinen Viktor Orbán, der die Gesellschaft programmatisch verändern möchte.

JIŘÍ PŘIBAŇ (Cardiff) warf in seiner Keynote Speech die große Frage nach der Balance zwischen innerer Differenzierung und einigenden Ideen auf, die Gesellschaften zusammen- und Politik funktionsfähig halten. Selbstredend seien es wirtschaftliche und soziale Stabilität sowie eine rationale und zuverlässige Verwaltung, die Staaten und supranationale Strukturen attraktiv machten. Aber es bedürfe nicht nur der Institutionen, sondern auch Ideen und historischer Erzählungen, die nicht unbedingt „wahr“ sein müssten, um die Menschen mitzunehmen. Die EU, so Přibaň, tue sich oft schwer, Ostmitteleuropa in diesen Narrativen angemessen zu repräsentieren. Dennoch sei es ihr gelungen, Ordnung in „the beautiful mess“ der 1990er-Jahre zu bringen. Wenn sie sich heute von der „illiberalen Demokratie“ eines Viktor Orbán oder dem systematischen Abbau demokratischer Rechte in Polen herausgefordert sehe, bleibe ihr als letztes Mittel eigentlich nur, den Geldhahn zuzudrehen.

Das dritte Panel „Transnational and Supranational Influences“ galt dem Wandel ostmitteleuropäischer Perspektiven auf die EU und den Beziehungen mit westeuropäischen Partnern. VÍT HLOUŠEK (Brno) skizzierte den Verlauf des tschechischen EU-Diskurses von der Europa-Euphorie der frühen Jahre zu tiefer Skepsis und charakterisierte die faktische Politik trotz aller plakativen Distanzierungen von „Brüssel“ als pragmatisch. Die Wirtschaftskrise von 2008 und die scharfen Konflikte um die Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015 hätten allerdings in allen Beitrittsländern von 2004 die Haltung zur EU umdefiniert – mit noch nicht absehbaren Folgen. Deutlich optimistischer war der Bericht von DAGMARA JAJEŚNIAK-QUAST (Frankfurt an der Oder) über die Visegrád-Staaten im europäischen Binnenmarkt. Nach 17 Jahren EU-Mitgliedschaft seien Handel, Investitionen und Arbeitsmigration zwischen den östlichen und den westlichen Partnern zwar keineswegs ausgeglichen, die Verflechtung sei aber sehr dicht geworden. Zwischen Tschechien, der Slowakei, Polen und Ungarn habe sich kein vergleichbarer wirtschaftlicher Austausch entwickelt, was möglicherweise eine Folge der starken Konzentration auf Deutschland darstelle.

Von den statistisch nachvollziehbaren Handels- und Finanzströmen ging es zu transnationalen Institutionen der Kulturförderung und damit zu fluideren, schwerer zu fassenden Einflüssen und Beziehungen. BEÁTA HOCK (Leipzig) eröffnete ihre Präsentation mit einem Rückblick auf amerikanische Kulturförderung in Westdeutschland während des Kalten Krieges. Freilich waren die Kontexte, in denen die „Parapolitics“ der 1950er-Jahre und das Wirken etwa der Soros-Stiftung oder der österreichischen ERSTE-Stiftung seit den 1990er-Jahren stattfanden, denkbar unterschiedlich. Ein Vergleich des Settings verdeutlicht aber, wo die Repräsentanten der „illiberalen Demokratie“ ansetzen können, um Ängste vor „Kosmopolitismus“ und dem „Ausverkauf nationaler Werte“ zu schüren. Und das führt wieder zu neuen Konstellationen: Viele derer, die den Kulturstiftungen in den 1990er-Jahren kritisch ein „europäisches Mainstreaming“ vorhielten, verteidigen diese heute gegen die Angriffe durch Antisemiten und Rechtspopulisten.

Fiktional, aber nicht weniger emotionsbesetzt waren die Bilder, die VERONIKA PEHE (Prag) in ihrem Vortrag zum polnischen, tschechischen und slowakischen Kino der frühen Nachwendezeit vorführte. Wie schon zuvor Hock argumentierte auch Pehe mit ökonomischen Faktoren, d.h. dem Rückzug des Staates aus dem Bereich der Kultur, der die Filmproduktion in der Tschechoslowakei bzw. ihren Nachfolgestaaten unvorbereitet traf. In Polen, wo schon vor 1989 viel unabhängiges kulturelles Leben existiert habe, seien in den 1990er-Jahren geradezu aktivistische Transformationsfilme entstanden. Sie präsentierten Helden (und einige wenige Heldinnen), die mit unternehmerischem Geist ihr Glück selbst in die Hand nahmen. Indessen lebten das tschechische und slowakische Kino dieser Jahre von der Komik, die sich entfaltete, wenn passive Normalbürger mit den Zumutungen des heimischen Transformationsgeschehens und der ihnen unbekannten Welt hinter dem gefallenen Eisernen Vorhang konfrontiert wurden. Bei OSTALP KUSHNIR (Warschau) ging es um andere Vorstellungswelten – und zwar um die Ideen von guter und gerechter Ordnung, die die neuen politischen Eliten in Ostmitteleuropa den Bürger:innen anboten. Diese ideellen Leitbilder und ihre mangelnde Tragfähigkeit beschrieb Kushnir als wichtige Faktoren für die ungleichzeitige und unterschiedliche Entwicklung der postkommunistischen Staaten und Gesellschaften. MARTIN BABIČKA (Oxford) schließlich wandte sich einem philosophischen Thema mit handfesten politischen Konsequenzen zu. Eine zentrale Kritik am Sozialismus richtete sich gegen dessen räuberischen Umgang mit der Umwelt. Daher forderten die Architekten der neuen Ordnung nach 1989 eine Neudefinition der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Wie Babička anhand zeitgenössischer Zitate nachwies, gingen allerdings Václav Havel wie Václav Klaus davon aus, dass die liberale Marktwirtschaft dieses Verhältnis von selbst in einen „natürlichen“ Zustand zurückführen würde, der Staat also nicht zu stark intervenieren dürfe.

Damit kehrte die Diskussion wieder an ihren Anfangspunkt zurück: zu dem zugespitzten Einwurf von PAVEL KOLÁŘ (Konstanz), Havel sei der erste Populist Ostmitteleuropas gewesen. Die Lebendigkeit der Konferenz speiste sich gerade aus den Diskussionen über solche und andere Infragestellungen gewohnter Bilder und Urteile: über schwache Parlamente und starke Präsidenten, nationale Rechtstraditionen und deutsche Verfassungs-Inspirationen und über den Populismus als typisch ostmitteleuropäische Krankheit. Eine der Fragen, die Martin Schulze Wessel in seiner Einleitung aufgeworfen hatte, blieb allerdings undiskutiert: Wäre die Bilanz der drei Jahrzehnte Geschichte seit 1989 anders ausgefallen, hätte die Konferenz, wie ursprünglich geplant, im November 2020 stattgefunden? Oder anders formuliert: Bedeutet die Covid-19-Pandemie eine weitere Zäsur in dieser Entwicklung, deren Auswirkungen sich in Asynchronitäten und Divergenzen niederschlagen werden, von denen die Regierungskrisen des letzten Jahres lediglich eine Ahnung vermitteln?

Konferenzübersicht:

Begrüßung, Einführung / Introduction
Martin Schulze Wessel / Darina Volf, München

Panel I: Historical Legacies

Erika Harris (Liverpool): What does thirty years of post-communism tell us about dynamics that shape transitions to democracy?

Adéla Gjuričová (Praha): Not an Empty Playground: The Institutional Transformation in Central Europe after 1989

Maren Hachmeister (Dresden): Transformations of carework for the elderly

Kommentar / Commentary: Pavel Kolář (Konstanz)

Panel II: Political Institutions and the Rule of Law

Dietmar Müller (Leipzig): Rechtsstaatlichkeit in Ostmitteleuropa. Vorstellungen zur Ausgestaltung im Vergleich

Joachim von Puttkamer (Jena): „Die Republik Polen ist ein demokratischer Rechtsstaat“. Grenzen und Möglichkeiten staatlichen Handelns in der verhandelten Revolution

Darina Malová (Bratislava): Slovakia’s more competitive transformation path

Kommentar / Commentary: Marta Bucholc (Warschau)

Keynote

Jiří Přibáň (Cardiff): Constitutional Imaginaries: on cultural traditions, societal expectations and political reinventions in Central Europe since 1989

Panel III: Transnational and Supranational Influences

Vít Hloušek (Brno): European Integration as a Critical juncture of the Czech politics

Dagmara Jajeśniak-Quast (Frankfurt an der Oder): Wirtschaftsbeziehungen auf einer Augenhöhe? Divergenzen in der wirtschaftlichen Entwicklung Ostmitteleuropas – eine Bestandaufnahme nach 17 Jahre der EU-Mitgliedschaft

Beáta Hock (Leipzig): Interference through Culture: Regime Change and the Region-wide Network of Soros Foundations

Kommentar / Commentary: Thomas Lindenberger (Dresden)

Panel IV: Social and Economic Thoughts, Visions and Representations

Veronika Pehe (Praha): Entrepreneurs and heirs: cinema and the economic transformation in Czech Republic, Slovakia and Poland in comparison

Ostap Kushnir (Warszava): Social visions of justice and order in explaining asynchronities and divergences of the post-communist transition

Martin Babička (Oxford): Toxic Past, Organic Future: Nature and the Markets in Czechoslovakia around 1989

Kommentar / Commentary: Michal Pullmann (Praha)

Abschlussdiskussion / Final discussion